Bei Nichtbeachtung von materialrelevanten Vorgaben und Stoffreglementierungen drohen Unternehmen potenziell Vollzugsanordnungen wie Produktrückruf, Produktionsstopp, Vermarktungsverbote sowie Schadensersatzklagen.

Materialspezifische Vorgaben (Material Compliance) sind schon seit Jahrzehnten über einzelne gesetzliche Vorgaben geregelt. Doch erst mit der Inkraftsetzung der europäischen Chemikalienverordnung REACH im Jahr 2007 haben diese einen allgemeingültigen Rahmen bekommen. 13 Jahre später haben sich weitere Gesetze in die Liste der Vorgaben eingereiht, unter anderem die RoHS-Richtlinie zur Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten oder die California Proposition 65, welche im Geltungsbereich lediglich Produkte, die in Kalifornien in Verkehr gebracht werden, beinhaltet und die mit Trinkwasser (Nahrungsmittel) in Berührung kommen. Da viele europäische Unternehmen aber Produkte liefern, welche im Bundesstaat Kalifornien und damit auch in den USA in den Markt gebracht werden, nimmt der Produzent in Europa auch seine europäischen Lieferanten bezüglich dieser Vorgabe in die Pflicht. Mittlerweile ist dadurch die Proposition 65 ebenfalls fester Bestandteil von materialspezifischen Vorgaben im innereuropäischen Warenverkehr geworden.

Im gleichen Umfang haben ebenfalls die speziellen Kundenanforderungen zum Thema Material Compliance stark zugenommen und setzen den Lieferanten zudem zivilrechtlich in die Umsetzungspflicht. Seit einigen Jahren ist analog der steigenden gesetzlichen Vorgaben auch ein höherer Umsetzungsdruck im Markt spürbar. Seien es die Vollzugsbehörden, welche personell aufgestockt immer stärker die Vorgabenkonformität kontrollieren oder auch die Firmenkunden, welche zur eigenen Haftungsreduktion eigene Tests durchführen, die Notwendigkeit zur anforderungskonformen Umsetzung wird immer größer.

In vielen Unternehmen wird das Thema Material Compliance und seine Auswirkungen im Falle der Nichtbeachtung der Vorgaben weiterhin stark unterschätzt. Hierbei sind zwei Rechtsbereiche involviert. Zum einen das Ordnungsrecht beziehungsweise Strafrecht im Falle eines Gesetzesverstoßes, zum anderen das Zivilrecht bei einhergehendem Vertragsverstoß. Wird gegen ein Gesetz verstoßen, zum Beispiel gegen die REACH-Verordnung, wird das Unternehmen wie auch die Unternehmensleitung zur Rechenschaft gezogen, unabhängig davon, ob tatsächlich ein Schaden entstanden ist oder nicht. In den meisten Fällen ermittelt hier das Ordnungsamt, welches als Vollzugsbehörde die Art und den Umfang der Verfehlung recherchiert und nachfolgend Maßnahmen anordnet. Diese Maßnahmen können von einer Ermahnung, über ein Ordnungsentgelt, bis hin zur Anordnung eines Produktrückrufes und eines Produktionsstopps reichen. Waren vor einigen Jahren die Vollzugsbehörden bei kleineren Verfehlungen noch etwas nachsichtiger, drängen diese heute auf die rechtskonforme Umsetzung gemäß Stand der Technik. Der Stand der Technik wird hierbei, ausgehend von der Umsetzung der RoHS-Richtlinie, analog der Umsetzungsvorgaben der DIN EN IEC 63000 (ehemals DIN EN 50581) formuliert. Im Anwendungsbereich der internationalen Norm wurde der Zweck auf die Einhaltung von geltenden Stoffbeschränkungen weltweit nach verschiedenen Gefahrstoffverordnungen erweitert. Die darin formulierte Herangehensweise ist sowohl von der Industrie als auch von den vollziehenden Behörden anerkannt.

Schaut man sich die Vollzugsanordnungen genauer an, so saldieren sich die potenziell entstehenden Kosten sehr schnell auf erschreckende Summen. Folgende Maßnahmen und Kosten könnten in einem solchen Fall anfallen:

  • Ordnungsentgelt
  • Rechtsanwaltskosten
  • Produktionsstopp
  • Überprüfung, in welchem Produkt der beanstandete Artikel noch verbaut ist. Eventuell sind für diese Produkte die gleichen Maßnahmen einzuleiten.
  • Umarbeitung der betroffenen, teilfertigen Produkte
  • Rückruf der betroffenen, im Handel befindlichen Produkte
  • Rückruf der betroffenen, beim Kunden befindlichen Produkte
  • Umarbeitung der zurückgenommenen Produkte aus dem Handel
  • Entsorgung der zurückgenommenen Produkte des Kunden
  • Neuerstellung des CE-Konformitätsnachweises. Bis dahin wird möglicherweise ein Vertriebsstopp für das/die betroffene(n) Produkt(e) verhängt.
  • Logistik- und Projektmanagement für den gesamten Prozess

Doch es sind nicht nur allein die resultierenden Kosten, welche aus dem reinen Ordnungswidrigkeitsverfahren entstehen, sondern auch die persönlichen Haftungsrisiken für die Unternehmensvertreter. Beispielsweise drohen Strafen bei Verstößen gegen die REACH-Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 gemäß § 27b ChemG in Form von bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafen. Viel weitreichender jedoch als die aus dem Ordnungswidrigkeitsverfahren erwachsenden Strafen und Konsequenzen können die zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche von Kunden und Nutzern sein. Laut § 433 BGB hat der Verkäufer dem Käufer die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen. Der Käufer muss sich hierbei nicht beim Verkäufer rückversichern, sondern kann die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben als vorausgesetzt annehmen. Liegen entsprechende Mängel vor, droht des Weiteren ein Verfahren nach Produkthaftungsrecht (§ 823 BGB und § 1 ProdHaftG). Die folgende zivilrechtliche Auseinandersetzung wird oftmals noch durch einzelvertragliche Vereinbarungen ergänzt, die der Kunde mit dem Lieferanten geschlossen hat und welche die Material Compliance Anforderungen genauer beschreibt. Dabei gehen diese Individualvereinbarungen oftmals über das gesetzlich Geforderte hinaus.

Im Falle der Nichteinhaltung können, neben den bereits aus dem Gesetz resultierenden Forderungen, Schadensersatzforderungen seitens der Kunden aus vertraglich zugesicherten Eigenschaften geltend gemacht werden. Der Schaden ist hierbei sowohl in dessen direkten Schadenskosten zu sehen als auch in entgangenen Umsätzen, verlorenen Aufträgen oder Kunden. Hier zeigt sich nun auch ein weiteres, wesentliches Risiko bei Verfehlungen im Bereich der Material Compliance. Hat ein Fahrradhersteller beispielsweise einen Lenkergriff verbaut, welcher eine Substanz größer dem entsprechenden Grenzwert, oder sogar einen Verbotsstoff, beinhaltet, muss er den entsprechenden Maßnahmen wie oben beschrieben folgen. Dies bedeutet, dass er einen Rückruf über die Handelsketten einleiten muss, was zu folgenden erheblichen Konsequenzen führen kann:

  • Vertragsaufkündigung zu laufenden Projekten
  • Keine Neuverträge mit dieser Handelskette
  • Schadensersatzforderung der Handelskette
  • Imageverlust der Fahrradmarke und dadurch Vertriebsverluste über alle Produkte
  • Vertrauensverlust der Endkunden

Summiert man die Haftungskosten dazu, welche dem Handelshaus und dem Kunden aus der Non-Compliance des Griffherstellers entstehen, kommen sehr schnell mehrere Millionen Euro zusammen. Eine Haftungssumme wie auch entsprechende Marktkonsequenzen, welche ein Unternehmen sehr schnell in Schieflage bringen können.

Der Gesetzgeber hat die Wirtschaft mit der Frage „Wann habe ich genug getan, um den gesetzlichen Anforderungen zu genügen?“ alleine gelassen. Einzig im Hinblick auf die Umsetzung der RoHS-Richtlinie wurden mit der DIN EN IEC 63000 als Umsetzungsnorm dezidierte Handlungsempfehlungen ausgesprochen. Mittlerweile findet man die Inhalte dieser Norm auch in der Handlungsempfehlung des REACH-Helpdesks zur Umsetzung der REACH-Kommunikation sowie in Handlungsempfehlungen einzelner Branchenverbände. Innerhalb der DIN EN IEC 63000 sind folgende Punkte als Umsetzungsvorgabe geregelt:

  1. Rechtsverbindliche Vorgabenübermittlung an den Lieferanten

Der Lieferant muss zur Einhaltung der Vorgaben zur Material Compliance rechtsverbindlich verpflichtet werden. Als geeignetes Mittel hierzu haben sich eine Material Compliance Hausnorm bzw. technische Spezifikation bewährt, welche alle Material Compliance Vorgaben zusammenfassen und in diversen Einkaufs- und Entwicklungsdokumenten verlinkt, zum Vertragsbestanteil werden. Gleichermaßen wichtig ist es jedoch, die Material Compliance Hausnorm auch nach innen in der Einhaltung verbindlich festzuschreiben, um Fehlentwicklungen zu vermeiden.

  1. Lieferantenkommunikation

Die Lieferantenkommunikation lässt sich in zwei Bereiche unterteilen. Zum einen in die Vertrauenswürdigkeitsbeurteilung der Lieferanteninformationen generell und zum anderen in die eigentliche Lieferantenkommunikation zu den eingekauften Artikeln:

a. Glaubwürdigkeitsbeurteilung

Es versteht sich von selbst, dass ein Lieferant, welcher die REACH-Verordnung nicht kennt oder seinerseits keine Lieferantenbefragung zur Umsetzungskontrolle der Vorgaben tätigt, nicht in der Lage ist, artikelspezifische Material Compliance Aussagen im Kontext von REACH zu tätigen. Um die Kompetenz wie auch den Material Compliance Prozess beim Lieferanten bewerten zu können, ist es erforderlich, den bestehenden Prozess zu hinterfragen und zu bewerten und je nach Ergebnis auch die Lieferanten im Thema zu entwickeln. Fällt die Beurteilung negativ aus, dürfen die vom Lieferanten bereitgestellten Informationen nicht im weiteren Prozess verwendet werden.

b. Lieferantenkommunikation

Auch die Lieferantenkommunikation ist mittlerweile in ihrer Umsetzung über eine Norm beschrieben: die IEC 62474. Demnach reicht es nicht aus, wenn der Lieferant die Einhaltung der Stoffgebote beziehungsweise Stoffverbote pauschal für alle Artikel bestätigt. Es ist vielmehr erforderlich, dass er die Material Compliance Aussage auf ein spezifisches Material, Bauteil oder Baugruppe bezieht. Diese wiederum sind erst dann eindeutig benannt, wenn sie über eine Artikelnummer und über ihren Artikelnamen eindeutig identifizierbar sind. Liegen die relevanten Informationen vor, sind diese gemäß der IEC TR 62476:2010 zu validieren. Die Norm schreibt an entsprechender Stelle vor, dass ein Hersteller ein Verfahren einführen muss, welches zur Beurteilung der Qualität der Vertrauenswürdigkeit der erhaltenen Dokumente dient.

  1. Risikobeurteilung und Analyse

Der Gesetzgeber hat verstanden, dass es nicht möglich ist, von sämtlichen Lieferanten für jeden einzelnen Artikel die notwendigen Informationen zu erhalten. Um hier keine Rechtslücke offen zu lassen, ermöglicht er es, für jene Artikel, für die keine Informationen vorliegen, eine Risikoabschätzung zu machen. Diese Bewertung des Risikos dient dazu, zu beurteilen, in welchen Artikeln möglicherweise reglementierte und/oder verbotene Stoffe enthalten sind. Sind alle Tests negativ, können die Ergebnisse auf alle Teile mit fehlenden Informationen übertragen werden. Die Risikobewertung als solches ist noch über keine Norm definiert und soll daher auf Erfahrungswerten im Thema Material Compliance aufbauen. Mit der Übertragung der Messwerte auf alle Artikel, für welche keine Informationen vorliegen, wird der Material Compliance Status für die betroffenen Artikel gesetzt, ohne dass eine rechtsverbindliche Auskunft des Lieferanten vorliegt, was im Schadensfall potenziell nachteilig ausgelegt werden kann.

Material Compliance Anforderungen sind Produktanforderungen, welche haftungsrechtlich anderen Produktanforderungen gleichgestellt sind. Eine Nichteinhaltung führt zu einer Vielzahl von Konsequenzen, welche ein Unternehmen sehr schnell in Schieflage bringen können. Zur Bewältigung der Material Compliance Vorgaben gibt es bewährte Prozesse, Kommunikationstools wie auch Dienstleistungsangebote, die mit vertretbarem Ressourcenaufwand eine Rechtskonformität darstellen können.